27.02.2013

Pilgerreisen nach Finnland – Vorbildhaftes und falsche Schlüsse

Es hat zwar einige Zeit gedauert, aber nach einem Gespräch mit Meike Kricke auf der 27. Internationalen Jahrestagung der Integrations-/ Inklusionsforscher/-innen in Leipzig habe ich mich doch entschieden meine Reisenotizen vom Finnland-Aufenthalt vom März 2012 zu veröffentlichen. Die folgenden Ausführungen basieren auf persönlichen Beobachtungen und den ergänzenden Erläuterungen der Lehrgangsleiterin Pirkko Kompa. Sie widmen sich auch der Frage welche Effekte der Austausch möglicherweise haben kann.

Zu Beginn soll auf die Ankündigung des Seminars durch FESch verwiesen werden, diese bezog sich auf Inklusion und Individualisierung im Unterricht und trug ein stückweit zu meiner Enttäuschung über den Aufenthalt bei.

Die Verweise auf das finnische Schulsystem gehen ja unter anderem zurück auf das gute Abschneiden bei PISA.  Um diese Resultate und das finnische Schulwesen verstehen zu können ist es erforderlich historische Aspekte zu berücksichtigen die in verschiedener Weise Einfluss auf den Gesellschaftlichen Umgang mit Bildung haben.

Zum einen ist in dem lange unter schwedischer und russischer Herrschaft stehendem sowie landwirtschaftlich dominiertem Land ein gesellschaftlicher Konsens entstanden, dass  Wohlstand für Finnland und die einzelnen nur durch Bildung für alle erreicht werden kann. So wurde die Finanzierung des Bildungssystems so gestaltet, das kein Kind auf Grund der finanziellen Verhältnisse der Eltern Nachteile bei der Bildung hat. So werden alle Schülerinnen landesweit mit allen benötigten Materialien vom Stift bis zu Büchern kostenlos versorgt. IMAG0213Die besuchten Schulen waren allesamt gut ausgestattet mit Schulbibliotheken, Smartboards und Computern. Ebenso können die Schulen auf Schulpsycholog/-innen und Schulsozialarbeiter/-innen zurückgreifen, die einen Teil der Woche an der Schule vor Ort sind. Auf Grund der landesweit einheitlichen Vorgaben und der geringen Zahl an Schülerinnen ist auch die Zahl der verfügbaren Schulbücher übersichtlicher als in Deutschland.

Schülerinnen, die den allgemeinen Standard erreichen können erhalten umfangreiche Unterstützung durch die Schulpsychologie, Schulsozialarbeit und sonderpädagogische Förderung. Dies geschieht seltener durch Binnendifferenzierung als vielmehr durch kompensatorisch ausgerichtete Einzelförderung.
IMAG0211An zwei Tagen haben wir Unterricht an einer neunjährigen Gemeinschaftsschule (Martinkallion koulo) beobachtet. Dieser war insofern enttäuschend, da es sich überwiegend um lehrerzentrierten Unterricht handelte, in dem wenig Differenzierung stattfand. Dies ließ sich sowohl für den beobachteten Mathematik, Geographie, Englisch sowie Chemieunterricht feststellen. Auffällig war in allen beobachteten Fächern der enorm hohe Anteil an Lehrersprache, der durch den Einsatz von Smartboards weiter verstärkt wurde. Lehrer/-innen unterschiedlicher Klassenstufen nutzen das IMAG0207Smartboard für Präsentationen (Chemie) und kleine Übungen (Mathematik und Englisch) so dass die Fokussierung auf das Handeln der Lehrkraft noch stärker ausgeprägt war. Insbesondere beim Englischunterricht war der Anteil an muttersprachlicher Lehrersprache so hoch, dass zu vermuten ist, dass die Englischkompetenz der Schüler/-innen eher von den nicht synchronisierten Fernsehserien mit finnischen Untertiteln stammt als aus solchem Fremdsprachenunterricht.

Auch an der von uns besuchten Oberschule (Martinlaakson lukio) war für mich überwiegend ein lehrkraftzentrierter, wenig differenzierender Frontalunterricht zu beobachten. Einzige Ausnahme bildet dabei der Bereich Mathematik, wo in einzelnen Gruppen mit den Videos der Plattform opetus.tv unabhängig von der Lehrkraft eine Auseinandersetzung mit dem Stoff stattfand und die Lehrer/-innen dadurch Zeit für individuelle Unterstützung hatten.

Zum gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen lässt sich sagen, dass auch in Finnland Sonderschulen existieren und einzelne Schüler/-innen in Sonderklassen unterrichtet werden. Solche haben wir aber nicht besucht, so dass ich darüber keine weiteren Aussagen treffen kann. Der beobachtete gemeinsame Unterricht war geprägt durch gemeinsame Lernsituationen und wenig Kooperation am gemeinsamen Gegenstand.

Take a smileAuffällig war der sehr wertschätzende Umgang der Lehrkräfte mit allen Schüler/-innen. An dieser Stelle scheint das finnische Schulwesen näher an einem inklusiven System zu sein, als das deutsche. Ausdruck dieser Wertschätzung ist beispielsweise der Umgang mit anderen Muttersprachen, die im Nachmittagsbereich gefördert werden und als Familiensprache weitergepflegt werden sollen, während die finnische Sprache in Kita und Schule vermittelt wird.

Auch die Beschreibung der Lehrgangsleiterin zur Einstellung der Bevölkerung zur Schule ist interessant. Sie berichtet, dass Schule als Notwendigkeit/erwartetes Verhalten gesehen wird (so wie Schneeschippen) aber eine geringe intrinsische Motivation vorherrscht. Gleichwohl besteht eine hohe Anerkennung gegenüber Bildung, die sich auch in der Anerkennung der Mutter spiegelt, wenn sie ihre Kinder zum Abitur führt.

Bezogen auf die Arbeitseinstellung der Lehrkräfte war insbesondere der Umgang mit dem Thema Vertretungsunterricht bemerkenswert. Die Lehrkräfte haben ein geringeres Stundendeputat als deutsche Lehrkräfte (Sonderpädagog/-innen, Klassenlehrer/-innen 24 Std., Fachlehrer/-innen Physik, Mathe, Kunst, Musik, EDV 20 Std.). Gleichzeitig haben sie auch ein geringeres Einkommen als deutsche Lehrkräfte, sie können aber zu Beginn des Schuljahres entscheiden, wie viel Vertretungsstunden sie zusätzlich übernehmen wollen. Diese werden jeweils alle bezahlt. Dieses Vorgehen verändert aber die Einstellung gegenüber dem Vertretungsunterricht völlig, da es weniger ein zusätzliches Übel darstellt als vielmehr eine bewusst getroffene Entscheidung. Fortbildungen wurden an den besuchten Schulen als schulinterne Fortbildungen am Samstag durchgeführt.

Zu diskutieren ist meines Erachtens welche Effekte solche Austauschprogramme auf Lehrer/-innen haben können. In meiner Lehrgangsgruppe waren etliche Lehrerinnen, die sich in ihrer Art des frontalen wenig differenzierten Unterrichtens bestätigt sahen und darauf verwiesen, dass das Schulsystem und der Unterricht dem der DDR sehr ähnlich seien. Die aus der Fortbildung entstehende Forderung begrenzte sich häufig darauf die Finanzierung in unserem Schulwesen dem finnischen anzupassen. Das problematische dabei ist aus meiner Sicht, dass die Rahmenbedingungen andere sind als in Finnland. Dies bezieht sich nicht nur auf die Anerkennung von Bildung, Schule und Lehrkräften sondern auch auf die geringeren sozialen Unterschiede in der Gesellschaft, begleitet von einem geringen Anteil von Migrant/-innen. Damit bestehen gravierende Unterschiede zur sozialen und kulturellen Struktur mit gravierenden Auswirkungen auf die Lernvoraussetzungen mit denen Schüler/-innen in Deutschland zu Schulbeginn starten. Daher erscheint mir eine so kompensatorisch ausgerichtete Förderung wie sie im finnischen System durchgeführt wird, als ungeeignet. Vielmehr bedarf es verschiedener Ansätze (mögliche Methoden sind dabei seit der Reformpädagogik bekannt) um mit der Verschiedenheit der Kinder innerhalb einer Klasse umzugehen.  Insbesondere da die Ausschreibung des Seminars als Teil des Moduls „Individualisiertes Lernen in heterogenen Gruppen in Europa“ einen Einblick in wenig binnendifferenzierende eher kompensatorische ausgerichtete Einrichtungen des finnischen Schulsystem ermöglichten, befürchte ich, dass einige Teilnehmer/-innen den Besuch als Anlass nehmen für ein „weiter-so“ und für die Aussage: „Wir bräuchten nur eine bessere Ausstattung mit Schulsozialarbeit, Schulpsychologie, Bibliotheken und Smartboards, dann wäre alles gut.“ Die notwendigen Veränderungen der Haltungen der Lehrkräfte gegenüber den Schüler/-innen wurden dabei meines Erachtens ebenso ausgeblendet wie die gesellschaftlichen Unterschiede.

 

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