11.02.2009

alle inklusive! Die neue UN-Konvention… und die Bildungspolitik für Menschen mit Behinderungen

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Am 29.1.2009 begann die Informationskampagne „alle inklusive! Die neue UN-Konvention“ der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen Karin Evers-Meyer und verschiedener Organisationen der Selbsthilfebewegung. Den Auftakt bildete eine Fachkonferenz im Berliner Kleisthaus zum Thema „Auswirkungen der UN-Konvention auf die Bildungspolitik für Menschen mit Behinderungen“.

Hervorzuheben ist die gemeinsame Organisation der Fachkonferenz durch Dr. Sigrid Arnade in Kooperation mit der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben – ISL e.V., dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V., dem Deutschen Gehörlosen-Bund e.V. und der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben gemeinsam lernen e.V. unter dem Dach der Bundesbeauftragten. Diese Kooperation hatte auf verschiedenen Ebenen gravierende Auswirkungen für die Fachkonferenz.

Einerseits war die Zusammensetzung der 300 Teilnehmenden erfreulicherweise eine andere als bei pädagogischen Fachkonferenzen üblich. Gemäß dem Geist der Konvention waren zahlreiche Vertreter/-innen der Selbsthilfe anwesend und vertraten ihre Position auf dem Podium, in den verschiedenen Arbeitsgruppen sowie bei diversen Pausengesprächen als Expert/-innen in eigener Sache. Damit verbunden war, dass auch von ihnen vertretene Inhalte wie beispielsweise die Forderung nach Selbstbestimmung und Assistenz sowie das grundsätzliche Recht auf einen Unterricht mit und in Deutscher Gebärdensprache Eingang in die Fachkonferenz fanden. Andererseits führten diese Kooperation und die Fokussierung auf die UN-Konvention dazu, dass die Diskussion eines inklusiven Bildungssystems erneut auf die Dimension Behinderung begrenzt wurde. Eine solche Einschränkung prägt das Verständnis vom Begriff Inklusion und schränkt die gefühlte Zuständigkeit weiter ein. Folge dessen war erneut, dass vor allem Vertreter/-innen der Sonderpädagogik anwesend waren und nur wenige aus der allgemeinen Pädagogik.

Nach Grußworten der Veranstalter/-innen und des Parlamentarischen Staatsekretärs Franz Thönnes (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) führten zwei Referate von Dr. Joachim Steinbrück (Landesbehindertenbeauftragte des Landes Bremen) und Dr. Irmtraud Schnell (Goethe Universität Frankfurt a.M.) in das Thema der Fachkonferenz ein.

Joachim Steinbrück bot in seinem Referat einen Überblick über den Artikel 24 der UN Konvention und verwies Bezug nehmend auf den Diskurs um die unbefriedigende deutsche Übersetzung der UN-Konvention darauf, dass im Zweifel das u.a. englische Original („inclusive education system“) Gültigkeit besitzt.  Weiterhin machte er deutlich, dass insbesondere der Erwerb von Brailleschrift bzw. Gebärdensprache und die dafür notwendigen Kompetenzen von Lehrkräften in den allgemeinen Schulen sichergestellt werden müssen.

Irmtraud Schnell zeigte in ihrem Einführungsvortrag – ausgehend von dem derzeitigen Stand des gemeinsamen Unterrichts in den verschiedenen Bundesländern – die Richtung auf, in die die Entwicklung einer „Schule für alle“ gehen sollte. Gleichermaßen betont sie die notwendige Rückbesinnung auf bereits durch Eltern und Forscher/-innen der Integrationsbewegung Intendiertes und Erreichtes, denn so Schnell: „in den Kämpfen mit Kultusbehörden geriet das integrative Verständnis unter die Räder und entwickelte sich zum Bemühen, einzelne Kinder in die mittlerweile unveränderte allgemeine Schule zu bringen.“ An der inflationären Verwendung des Begriffs „Inklusion“ kombiniert mit der gleichzeitigen Beschränkung auf die Dimension Behinderung wird deutlich, dass dem Inklusionsbegriff dasselbe Schicksal droht. Es gilt daher aufmerksam zu beobachten, was als Inklusion bezeichnet wird. Diesbezüglich verdeutlichte Irmtraud Schnell, dass die angestrebte „Schule für alle“ Bildungsangebote für alle Kinder bereitstellt, d.h. „für die mit und ohne Behinderung, für die aus bildungsfernen und -nahen Elternhäusern, für die aus belasteten und beschützenden Umgebungen, für die sesshaften und die auf der Flucht, für die innerlich verletzten und für die unbekümmert aufgewachsenen, für die vernachlässigten und die überbehüteten, für die kräftigen und die zarten, für die, deren Erstsprache nicht Deutsch ist und für die, deren Muttersprache es ist, für die Mädchen und Jungen“.

Durch die Beteiligung der Betroffenenverbände wurden zum Teil andere Blickwinkel eingebracht als bei anderen Veranstaltungen zum Thema. Daher werden die in den anschließenden zweistündigen Menschenrechtswerkstätten diskutierten Themen hier kurz vorgestellt .

Themen der Werkstatt „Lernen inklusive“ waren die Vermeidung von Sonderschulneugründungen, die Abschaffung des vielgliedrigen Schulsystems, die Schaffung von breiten Aktionsbündnissen für „eine Schule für alle“ und die notwendige Erstellung einer Sammlung von Best-Practice-Beispielen für Inklusion.

In der Werkstatt „Wer entscheidet über die schulische Laufbahn?“ waren das Recht auf den Besuch einer allgemeinen Schule, die notwendigen Schulgesetzreformen, die Anregung eines entsprechenden politischen Diskurses sowie das uneingeschränkte Elternwahlrecht Gegenstand der Diskussion. Problematisch erscheint, dass ein uneingeschränktes Elternwahlrecht ohne unabhängige Beratung auch zur Aufrechterhaltung der Sonderschulen beitragen kann und damit ggf. dem Bildungsrecht der Kinder entgegen steht. In dem Workshop wurde auch eine Bildungsberatung statt selektiver Diagnostik gefordert.

Die Teilnehmer/-innen der Werkstatt „Qualitätsanforderungen an einen Unterricht mit blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schülern“ thematisierten, dass es nicht ausreichend sei, die letzten Sonderschulen zu schließen, sondern dass es gleichzeitig erforderlich ist, qualitative Standards, die derzeit an Sonderschulen vorhanden sind, auch an der Regelschule zu erfüllen. Die Vertreter/-innen machten deutlich, dass sie, so lange die Sonderschulen als Lernumfeld präferieren, wie die allgemeine Schule den besonderen Bildungsanforderungen von blinden und sehbehinderten Schüler/-innen nicht gerecht wird. Dazu gehören neben dem Erlernen der Brailleschrift und lebenspraktischer Fertigkeiten auch Fragen der Orientierung und Mobilität. Die nötigen Kompetenzen der Lehrkräfte können, nach Ansicht Betroffener, ebenso wie technische Hilfsmittel an Schwerpunktschulen bereit gestellt werden. Dafür notwendige Voraussetzung ist es aber weiterhin, die Kompetenzen an den Universitäten vorzuhalten, was insbesondere bei der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik immer seltener der Fall ist. Gleichzeitig wurde die Verlagerung der Zuständigkeit für Fragen der Hilfsmittel/Unterstützung aus der Sozialpolitik in die Bildungspolitik gefordert.

Schwerpunkte des Workshops „Qualifizierung von Lehrkräften in Sonder- und allgemeiner Pädagogik“ bildeten neben der Erstausbildung an Universitäten und im Vorbereitungsdienst auch Fragen der Fort- und Weiterbildung. In der Diskussion wurde deutlich, dass einige Bundesländer die Umstellung zum Bachelor/Master-System für Veränderungen an der Lehramtsausbildung genutzt haben, andere aber die Chance zu einer inhaltlichen Reform verstreichen ließen. Beispielhaft genannt wurden Rheinland-Pfalz mit verpflichtenden Praktika außerhalb der angestrebten Schulform und acht bis zehn Semesterwochenstunden für den Bereich Diagnostik/Differenzierung/Integration für angehende Regelschullehrer/-innen oder auch Bremen mit dem Master-Studiengang "Inklusive Pädagogik", der auf einen Bachelor für Grund- oder Sekundarschulen aufbaut. Auf universitärer Ebene wurde weiterhin die Frage diskutiert, wie sonderpädagogische Kompetenzen in modularisierter Form in die Erstausbildung sowie in die Fort- und Weiterbildung integriert werden können, sodass damit eine grundständige Ausbildung von Sonderpädagog/-innen abgelöst werden kann. Christian Eichfelds Vorschlag eines Kerncurriculums für das allgemeine Lehramt beinhaltete beispielsweise, neben der Fachwissenschaft, die vier Bereiche „soziales Lernen“, „Beratung“, „prozessbegleitende Diagnostik“ und „individuelle Unterstützung“. Auch in diesem Workshop wurde offensichtlich, dass die Einbeziehung der allgemeinen Pädagogik im Hinblick auf die Frage des Umgangs mit Heterogenität dringend erforderlich ist. Dies könnte beispielsweise durch die Einbeziehung der Fachdidaktiken der Unterrichtsfächer in Forschung und Lehre umgesetzt werden.

In Hinblick auf den Vorbereitungsdienst zeigte sich, dass in Berlin positive Erfahrungen von Sonderpädagog/-innen an Regelschulen gesammelt wurden. So ist es in Berlin jetzt erstmals möglich den Vorbereitungsdienst vollständig an Regelschulen zu absolvieren. Gleichzeitig wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit es möglich ist, Teile der zweiten Phase gemeinsam mit Regelschullehrkräften durchzuführen und damit Kooperation für beide Seiten in der Ausbildung erfahrbar zu machen.

Zur Frage der Fort-/Weiterbildung wurde am Beispiel eines mobilen Beratungs- und Begleitteams aus Berlin-Reinickendorf deutlich, dass ein Angebot vor Ort an den Schulen in der konkreten Situation geeignet ist Lehrkräfte zu erreichen und zu stärken. Eine solche schulinterne Fortbildungskompetenz verspricht man sich auch von multiprofessionellen Expert/-innenpools, die als schulbezogene oder regionale Unterstützungszentren vorgeschlagen wurden.

Der Workshop „Unabhängige Beratung“ betonte die Bedeutung niedrigschwelliger, barrierefreier, vernetzter und kostenloser mobiler Beratung für unterschiedliche Phasen (pränatal, frühkindlich, schulisch, Übergang Schule-Beruf, lebenslang) durch Eltern und Menschen mit Behinderungen. Hier wurde herausgearbeitet, dass neben den organisatorischen Fragen (Finanzierung, Organisationsformen) auch inhaltliche Aufgaben wie die Erarbeitung von Qualitätsstandards anstehen.

Im Workshop „Unterstützung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Schule“ wurden die besonderen Widerstände thematisiert, mit denen Eltern und betroffene Personen zu kämpfen haben. Am Bild von den „müden Löwen“ zeigte Stefan Göthling das besondere Abhängigkeitsverhältnis von Kindern mit Lernschwierigkeiten auf. Denn was ist, wenn die Eltern nicht (mehr) in der Lage sind zu kämpfen? Dementsprechend notwendig ist der geforderte Abbau der Barrieren in den Köpfen.

Auch im Workshop „Qualitätsanforderungen an einen Unterricht mit gehörlosen Schülerinnen und Schülern“ zeigte sich, dass aus Sicht von Gehörlosen bestimmte qualitative Anforderungen an eine inklusive Schule gestellt werden. Dazu gehört, mit Hilfe der Gebärdensprache die Brücke zwischen Community und Schule zu schlagen. Um die Isolation von gebärdenden Schüler/-innen zu vermeiden und ihnen Möglichkeiten zur Identitätsentwicklung zu bieten, wurde gefordert, auf Einzelintegration zu verzichten und jeweils mindestens vier gehörlose Schüler/-innen gemeinsam zu unterrichten.

Im Workshop „Schulassistenz: ein Schlüssel zur selbstbestimmten Teilhabe am Unterricht“ ging es um Fragen der Bedarfsfeststellung, des Selbstverständnisses der Assistent/-innen, der Information der Eltern sowie um die Einrichtung von Ombudsstellen zur Vermeidung von langwierigen Klageverfahren. Entscheidend scheint dabei, inwieweit die Schulassistenz notwendig ist, um dem einzelnen Kind zu ermöglichen, den Umgang mit der „Arbeitgeberrolle“ kennenzulernen, oder ob es dadurch zu einer besondernden, abschirmenden Situation kommt.

Auch der Workshop „Die Peer Group als Schlüssel zum inklusiven Leben“ thematisierte die Notwendigkeit von Peers für die Identitätsentwicklung und forderte daher sowohl den Verzicht auf Einzelintegration als auch die Vorbildfunktion von Erwachsenen mit Behinderung(en). Im Hinblick auf die Einstellung von Lehrkräften mit eigenen Behinderungen wurde von Ministeriumsvertreter/-innen bemerkt, dass es keine Bewerber/-innen gibt. Die Teilnehmer/-innen des Workshops forderten außerdem den Einsatz von Unterstützungskreisen und Persönlicher Zukunftsplanung als Alternative zur lehrkraftgesteuerten Förderplanung.

Der Workshop „Hochschulbildung, Erwachsenenbildung, lebenslanges Lernen“ zeigte auf, dass hinsichtlich der inklusiven Bildung im universitären Bereich noch großer Nachholbedarf besteht. Dieser liegt sowohl im Bereich der Hochschuldidaktik als auch in der Barrierefreiheit. Verdeutlicht wurde dies an Hand der häufig fehlenden aber nötigen Doppelbesetzung mit Gebärdensprachdolmetscher/-innen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Konferenz einen gelungenen Auftakt für die Kampagne zur UN-Konvention darstellte und dank der Einbeziehung der Betroffenenverbände die notwendige Veränderung des Blickwinkels erfolgte. Das derzeit größte Problem, nämlich das Zuständigkeitsgefühl der allgemeinen Pädagogik für alle Kinder zu erhöhen, konnte jedoch nicht angegangen werden.

Eine offizielle Dokumentation wird durch Frau Dr. Arnade erstellt und auf der Kampagnenseite veröffentlicht.

Kampagnen-Webseite: http://behindertenbeauftragte.de/alle-inklusive

Noch ausstehende Termine:

9. März 2009, Frankfurt am Main – alle inklusive! Die neue UN-Konvention… und die Politik für Frauen mit Behinderungen

18. März 2009, Mainz – alle inklusive! Die neue UN-Konvention… und die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen

28. März 2009, Kiel – alle inklusive! Die neue UN-Konvention… und Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen

Zitate:

„Es geht dabei – das ist mir wichtig zu sagen – nicht um Spezialrechte für Menschen mit Behinderung. Es geht um die Garantie allgemeiner Menschenrechte auch für behinderte Menschen mit ihren besonderen Unterstützungsbedarfen.“ (Karin Evers-Meyer)

„Im gemeinsamen Unterricht können behinderte und nichtbehinderte Kinder ihre individuellen Fähigkeiten ausloten, können ihre Talente entwickeln, können Lebenserfahrungen austauschen und sie können den selbstverständlichen Umgang miteinander lernen. Das prägt fürs Leben. Und deshalb lautet das eigentliche Credo: Von Anfang an gemeinsam! Die Umsetzung gemeinsamer Bildung liegt vor allem in den Händen der Länder – Ideen und Konzepte zu ihrer Verwirklichung lassen sich jedoch am besten zusammen entwickeln.“ (Franz Thönes)

Die Berichte basieren auf Mitschriften von Kolleg/-innen und den Präsentationen im Plenum.

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